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Die Sozialgerichte zittern schon vor einer neuen Klagewelle - In Potsdam hat jeder Richter im Schnitt 400 Klagen auf dem Tisch

Der Kompromiss zu den Regelsätzen dürfte neue Widersprüche provozieren

5 + 3 lautet der Hartz-IV-Kompromiss (1:48)

 

POTSDAM - Routiniert breitet Volker Reschke die Akten vor sich aus – 14 grüne Hefter, jeder enthält eine Klageschrift. Dann setzt er sich hinter den Tisch. Es ist 9.15 Uhr und der Richter am Potsdamer Sozialgericht hat sich vorgenommen, das Pensum zügig zu bewältigen. Heute geht es um die 52-jährige Elke R. aus Blankenfelde (Teltow-Fläming), die seit fünf Jahren von Hartz IV lebt und fast genauso lange mit dem Jobcenter des Kreises im Streit um Miete und Fahrtkosten liegt.

Die Gerichte stöhnen schon bisher unter der Last der Hartz-IV-Verfahren. „Die Klageflut beim Sozialgericht Potsdam ist ungebrochen“, erklärt Gerichtssprecher Moritz Bröder. Allein im Dezember 2010 gingen 790 neue Klagen ein. Im gesamten Jahr landeten vor den vier Brandenburger Sozialgerichten 21 000 Streitsachen, 5,8 Prozent mehr als 2009. Die Lage dürfte sich jetzt weiter verschlimmern. Sozialverbände, Linke und Grüne bezweifeln, dass der von den Politikern in der Bund-Länder-Runde ausgekungelte Beschluss zur Erhöhung der Regelsätze mit dem Urteil des Verfassungsgerichts vereinbar ist. Das hatte eine transparente und nachvollziehbare Neuberechnung angemahnt. Die Prozessflut wird wohl weiter anschwellen – bis sich die Karlsruher Richter am Ende wahrscheinlich noch mal mit der Materie befassen müssen.

Vor dem Potsdamer Gericht geht es an diesem Tag vor allem um Mietkosten. 445 Euro monatlich musste Elke R. im Jahr 2006 für die 60 Quadratmeter große Wohnung bezahlen, die sie gemeinsam mit ihrem Sohn bewohnte. Zu teuer, befand das Jobcenter, und übernahm nur 358 Euro. Elke R. ging erst in Widerspruch, dann klagte sie. Ein Jahr später korrigierte das Jobcenter seine Rechnung und übernahm 440 Euro. „Das ist ein Streitwert von nur fünf Euro“, konstatiert Reschke. Später, nach einer Mieterhöhung, wurden zwar 17 Euro daraus, aber auch das würde keinen Umzug in eine billigere Wohnung rechtfertigen. „Auch die Umzugskosten müsste doch das Jobcenter übernehmen“, stellt Reschke fest. Seit 2009 gebe es eine klare Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, dass in solch einem Fall die volle Miete zu zahlen sei.

Der Vertreter des Jobcenters Teltow-Fläming verweist kleinlaut auf das Rechnungsprüfungamt, das bei Verschwendung sehr penibel sei. Und als der Richter bemängelt, dass das Jobcenter auf die Klage nicht einmal geantwortet habe, druckst er herum und spricht von Personalmangel. Das macht den Richter wütend. „Ich habe die ganze vorige Woche da gesessen und versucht, das zu verstehen“, schimpft er. So hat er recherchiert und festgestellt, dass eine Kaltmiete von vier Euro pro Quadratmeter in Blankenfelde nicht unangemessen hoch ist.

Am Potsdamer Sozialgericht sind 25 Richter tätig. Jeder von ihnen hatte Ende Dezember 400 Klagen auf dem Schreibtisch. „2010 konnte die Verfahrenslaufzeit mit durchschnittlich 16 Monaten noch annähernd auf Vorjahresniveau gehalten werden“, sagt Gerichtssprecher Bröder. Allerdings sei das unzumutbar lang, gibt er zu. Im Fall von Elke R. sind einige Klagen sogar schon fast fünf Jahre alt.

Es ist 10.15 Uhr, als Richter Reschke in der Frage der Mietkosten zur Entscheidung kommt. Von März 2006 bis September 2009 muss das Jobcenter die Miete voll übernehmen. 330 Euro Nachzahlung sind damit fällig. Anders sieht es für den Zeitraum danach aus. Nach dem Auszug ihres inzwischen erwachsenen Sohns wohnt Elke R. allein in der 60-Quadratmeter-Wohnung. Als angemessen gelten aber höchstens 50 Quadratmeter. Deshalb rät Reschke ihr, sich nun nach einer kleineren und billigeren Wohnung umzusehen oder die reduzierten Zahlungen des Jobcenters zu akzeptieren. Elke R. bittet noch um Bedenkzeit. Richter Reschke seufzt, denn so bleibt das Verfahren in der Schwebe.

Um die Gerichte zu entlasten, fordert der CDU-Landtagsabgeordnete Danny Eichelbaum eine Gebühr von 75 Euro, die den Klägern bei Erfolg erstattet würde. „Es gibt offensichtlich viele unbegründete Klagen“, sagt er. Völlig inakzeptabel ist das aus Sicht von Kirsten Tackmann, Brandenburger Bundestagsabgeordnete der Linken. 55 Prozent der Klagen seien 2010 erfolgreich gewesen. „Vor allem Wohnkosten-Bescheide, Einkommensanrechnungen oder Kürzungen von Hartz IV waren fehlerhaft“, sagt sie. Ursache für die Klageflut seien nicht überzogene Ansprüche der Betroffenen, sondern handwerkliche Fehler im Gesetz. Die Bundesagentur für Arbeit verweist selbst auf die vielen Änderungen im Gesetz. In den sechs Jahren seit der Einführung von Hartz IV habe es über 50 Korrekturen gegeben. „Jeder fünften Klage wird stattgegeben, weil sich vom Zeitpunkt des Bescheids bis hin zum Gerichtsverfahren die Gesetzeslage geändert hat“, sagt das Vorstandsmitglied der Bundesagentur, H  einrich Alt.

Im Potsdamer Sozialgericht geht es inzwischen um Fahrtkosten. Jeweils 6,20 Euro hat Elke R. vom Jobcenter erhalten für drei Fahrten zu Vermittlungsgesprächen. Die Behörde ging dabei von einer Strecke von 31 Kilometern aus. Die Arbeitslose hat im Internet per Google nachgemessen und kam auf 32 Kilometer. Der Streitwert beträgt 20 Cent, stellt der Richter mit eisiger Stimme fest. Klagen um solche Minibeträge seien „absurd und rechtsmissbräuchlich“, poltert er. Der Anwalt stottert, er habe nicht die Zeit gehabt, alles zu prüfen. Dann zieht er die Klage zurück. Und so ist um 10.40 Uhr die Sitzung beendet. „Das ging ja zum Ende doch ganz schnell“, freut sich Richter Reschke. (Von Ulrich Nettelstroth)

Quelle: Märkische Allgemeine Zeitung, 22.02.2011

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